Um Kinder nach den oben genannten Zielen zu erziehen, ist es notwendig, sie sich selbst in unterschiedlichen Situationen und Tätigkeiten ausprobieren zu lassen. Damit das Kind lernen kann, muss es die Möglichkeit zur direkten Erfahrung bekommen. „Der Menschengeist wächst durch die verarbeiteten Erlebnisse. Kann man also auch die vergangenen Erlebnisse im Geiste nicht wie in einer Sammelkarte aufbewahrt finden, man findet ihre Wirkungen in den Fähigkeiten, die sich der Mensch erworben hat.“ Dem Kind ein Umfeld zu bieten, in dem es sich selbst weiter ausbilden kann bedeutet also, ihm einen Erlebnisraum zu schaffen. Auch wenn der Begriff „Erlebnispädagogik“ bei Rudolf Steiner nicht direkt auftritt, (wie im Übrigen auch bei Kurth Hahn nicht) finden sich daher viele Elemente im üblichen Lehrplan der Waldorfschulen, die heute als solche angesehen werden können. So gehören Holzwerken, Handarbeiten, Gartenbau, Musizieren und Malen in fast allen Jahrgangsstufen zum Unterricht. Zudem werden in verschiedenen Klassenstufen spezielle Projekte für einen abgeschlossenen Zeitraum verfolgt. In der Unterstufe wird z.B. ein Jahr lang regelmäßig ein Bauernhof besucht und es wird bei der Feldarbeit von der Saat bis zur Ernte mitgeholfen, Korn wird gedroschen, gemahlen und schließlich zu Brot verarbeitet. Es steht auch je nach Jahrgang Schmieden, Kupfertreiben, Plastizieren, Steinmetzen und anderes auf dem Stundenplan. Praktika wie Forst- und Feldmesspraktikum werden als Klassenfahrt von der Klasse gemeinsam absolviert. Zudem werden in 8. und der 12. Jahrgangsstufe von jedem Schüler so genannte „Jahresarbeiten“ erstellt. Dabei soll sich jeder Schüler ein Jahr lang einem frei wählbaren Thema widmen und seine Arbeit am Ende des Schuljahres präsentieren. Außerdem stehen regelmäßig längere Klassenfahrten an, bei denen die Schüler in direktem Kontakt mit der Natur stehen. Gemeinsame Theateraufführungen gehören ebenfalls zum Lehrplan. Schaut man auf Kurt Hahns Salemer Gesetze, finden viele von ihnen hier eine Anwendung. Das in der Erlebnispädagogik viel zitierte „Lernen mit Kopf, Herz und Hand“ ist in der Waldorfschule nicht nur erwünscht, es wird täglich praktiziert und ist in der zugrunde liegenden Theorie verankert. Die Schüler sollen durch die Schule in echte Lebenssituationen gebracht werden, in denen sie ein Verständnis für die Welt entwickeln. Die Abläufe in der Natur, die Bedeutung der Jahreszeiten und -Feste, die Eigenschaften verschiedener Materialien, die Besonderheiten unterschiedlicher Erfahrungsräume, der Wert der Pflanzen – und Tierwelt und auch die Auswirkungen des eigenen Verhaltens werden dadurch am eigenen Leib erlebt und die Schüler werden in der Wahrnehmung und dem Verständnis für ihre Umwelt und die Mitmenschen sensibilisiert. „Wir stehen nur dann recht im Leben drinnen, wenn jeder Augenblick, jeder Tag, jede Woche, jedes Jahr für uns eine Quelle ist, für unsere Weiterentwicklung zu lernen. Wir werden unsere Schule – gleichgültig, wie weit wir in ihr gekommen sind – am besten durchgemacht haben, wenn wir durch diese Schule gelernt haben, vom Leben zu lernen.“
Für dieses „Lernen vom Leben“ kommt es offensichtlich weniger auf extreme Erfahrungen im sportlichen Bereich an, sondern auf eindrückliche Erlebnisse, die aus einem maßvollen auf und ab an Aktivität bestehen und Sinneseindrücke so dosiert übermitteln, dass sie tatsächlich verarbeitet werden können. Nicht nur das Angebot an Erlebnissen an sich ist für den Schüler wichtig, auch eine Schulung seiner Erlebnisfähigkeit ist von großer Bedeutung.
Abgrenzung zur Reformpädagogik
Die Entstehung der Waldorfpädagogik fällt in die Zeit der Reformpädagogik Anfang des letzten Jahrhunderts, daher wird sie oft als eine der vielen reformpädagogischen Strömungen angesehen. Diese hatten sich angesichts des aus körperlicher Züchtigung und Drill bestehenden Schulalltags jener Zeit entwickelt, der mehr und mehr auf Widerstand stieß. Die Wichtigkeit einer kindgerechten und gewaltfreien Lernumgebung drang in das Bewusstsein der Menschen vor und war Ziel der Reformpädagogen. So entwickelten sie unterschiedliche Theorien, gründeten Reformschulen und kamen der wichtigen Aufgabe nach, die Missverhältnisse jener Zeit auszuräumen. Auch wenn die Waldorfpädagogik natürlich ebenfalls eine kindgerechte und gewaltfreie Lernumgebung anbietet, lagen Steiners Beweggründe weniger darin, die miserablen pädagogischen Umstände seiner Zeit aufheben zu wollen. Vielmehr beschäftigte ihn die Frage nach der spirituellen Beschaffenheit des Menschen und er strebte nach einer Erkenntnis allen kosmischen Zusammenwirkens. Seine Schriften behandeln Fragestellungen, die sich mit weit mehr als Pädagogik auseinandersetzen und deren Motivation weitgehend von ihrer Entstehungszeit unabhängig ist. Deshalb liefern sie auch Lösungen zu den Problemen und Herausforderungen unserer Zeit, wie der zunehmenden Jugendgewalt und der Mediensucht, aber auch Umweltproblemen und vielem mehr, die in dieser Form zu Steiners Zeiten nicht existierten. Nicht nur die früher üblichen brutalen Erziehungsmethoden stehen in krassem Widerspruch zu Steiners Pädagogik, auch die etwas subtileren, in ihren Auswirkungen aber ebenso gravierenden Probleme der heutigen Erziehung, wie die seelische Verwahrlosung und das auf wirtschaftliche Verwertbarkeit ausgerichtete Schulsystem lassen sich mit seinem Menschenbild nicht vereinbaren. Insofern lässt sich die Waldorfpädagogik nicht ganz problemlos als reformpädagogische Strömung einordnen, schließlich wurde sie nicht als Reform einer anderen Pädagogik konzipiert.
Obwohl Reform- und Waldorfpädagogik unterschiedlich motiviert waren, gibt es einige methodische Übereinstimmungen. Lernen aus der Praxis, Naturerfahrungen und die Gemeinschaft stärkende Aktionen werden auch in der Reformpädagogik eingesetzt, da sie offensichtlich der kindlichen Natur entgegenkommen.
Steiner übt trotz methodischer Überschneidungen Kritik an seinen Zeitgenossen, deren Ziele er zwar ehrt, deren Vorgehen er aber für praxisfern hält. „Wer nicht in einer Art von Seelenschlaf die gegenwärtige Krisis des europäischen Zivilisationslebens an sich vorübergehen lässt, sondern sie voll miterlebt, der kann ihre Ursprünge nicht bloß in verfehlten äußeren Einrichtungen sehen, die einer Verbesserung bedürfen, sondern er muss sie tief im Innern des menschlichen Denkens, Fühlens und Wollen suchen. [....] Die Waldorfschule ist nicht eine "Reformschule", wie so manche andere, die gegründet werden, weil man zu wissen glaubt, worin die Fehler dieser oder jener Art des Erziehens und Unterrichtens liegen; sondern sie ist dem Gedanken entsprungen, dass die besten Grundsätze und der beste Wille in diesem Gebiete erst zur Wirksamkeit kommen können, wenn der Erziehende und Unterrichtende ein Kenner der menschlichen Wesenheit ist.“ Dies verbindet ihn mit Kurt Hahn, der sich ebenfalls von den „Schmeichelpädagogen“ distanzierte. Auch Hahns Pädagogik hatte mehr zum Ziel, als bloß die Lernumgebung der Schüler zu verbessern. Seine Motivation war eher politischer als philosophischer Natur, er bangte um die Moral der Jugend und fürchtete ihre Gleichgültigkeit gegenüber Staat und Mitmenschen. Wie Steiner erkannte er, dass dem Kind ein Trieb inne wohnt, die Welt zu entdecken und durch eigenes Handeln zu lernen. Er beobachtete, dass dieser Trieb in den Jugendjahren verloren geht. Im Gegensatz zu Steiner folgerte er, dass das Augenmerk der Erziehung nicht auf die Kindheit, sondern auf die Jugend zu richten sei, da die Kindheit quasi von allein eine erfolgreiche Entwicklung brächte. Seine Methoden konzentrieren sich folglich darauf, den positiven Trieb aus der Kindheit ins Jugendalter hinüberzuretten und sind dem erlebnispädagogisch interessierten Leser hinlänglich bekannt. Wie bereits oben erwähnt, erfüllt die Waldorfpädagogik durch ihren hohen Anteil an praktischen und gemeinschaftlichen Projekten ungewollt seine Salemer Gesetze in hohem Maße, weshalb sich Waldorf- und Erlebnispädagogik mühelos verbinden lassen.