Trotz des zweifelsfreien Erfolgs der Erlebnispädagogik in den letzten Jahren werden zunehmend kritische Stimmen laut, die die Methoden und den Nutzen in Frage stellen. Ein Hauptvorwurf besteht in einem konzeptionellen Widerspruch: Das Ziel, den durch Konsum, Reizüberflutung und Entfremdung degenerierten Menschen zu therapieren, soll durch Extremsport und noch mehr Adrenalin erreicht werden. Scharenweise werden Schulklassen und Manager, verhaltensauffällige Jugendliche und gelangweilte Junggebliebene durch Hochseilgärten getrieben, in Klettergurte verschnürt oder verbringen die Nacht auf einem Laubbett unter freiem Himmel, doch häufig zeigt diese „Erlebnistherapie“ langfristig wenig Wirkung. Bei einigen Angeboten steht das Vergnügen aller Beteiligten zu sehr im Vordergrund, hier wird die fehlende pädagogische Metaebene kritisiert. Auch wer bei Firmen für sein Programm wirbt, indem er die ungeheure Steigerung des Humankapitals durch entsprechende Maßnahmen betont, stärkt der Erlebnispädagogik nicht gerade den Rücken. Der Begriff wird inflationär auf alles angewendet, was irgendwie draußen stattfindet oder unterhaltsam ist. Dabei ist die Natur zum Teil nicht mehr als ein Sportgerät, Umweltschutz und ein tieferes Verständnis der Teilnehmer für den speziellen Erfahrungsraum, (Fluss, Berg, Höhle..) in dem sie sich bewegen, bleiben auf der Strecke. Dass dies Kritiker auf den Plan ruft, ist nur zu verständlich.
Die Waldorfpädagogik kann sich der Kritik weitestgehend anschließen, dennoch stehen der pädagogische Nutzen und die Unverzichtbarkeit von Erlebnissen für sie außer Frage. Das Problem liegt nicht in dem Ansatz, Erlebnisse ermöglichen zu wollen, sondern in der Umsetzung. Die herkömmlichen Maßnahmen sind zum Teil wenig individuell und die wahren Bedürfnisse der Teilnehmer bleiben oft unerkannt, weshalb die konstruierten Erlebnisse eine ganz andere Wirkung haben, als erhofft. Zudem sorgen fehlende Verarbeitung bzw. Einbettung des Erlebnisses in einen übergeordnet Kontext für einen kurzen, schnell nachlassenden Effekt, der von den Teilnehmern nicht in den Alltag transportiert werden kann. Dies kann das Verlangen nach einem neuen, extremeren Erlebnis zur Folge haben, anstatt die erhoffte Zufriedenheit und Reifung zu bringen. Eine Überdosierung an Sinneseindrücken führt zudem zu einer Abstumpfung der Sinne, wo doch eigentlich eine Steigerung der Sensibilität gewünscht war. Insgesamt verfehlen solche Maßnahmen also ihr Ziel.
Um Angebote so zu gestalten, dass sie tatsächlich den gewünschten Effekt bei den Teilnehmern erreicht, nutzen anthroposophisch orientierte Veranstalter die Erkenntnisse der Waldorfpädagogik. Nicht auf die Menge der Erlebnisse kommt es an, sondern auf die richtige Dosierung und darauf, die Teilnehmer für die Wahrnehmung der Erlebnisse zu sensibilisieren. Dies geschieht durch ein ästhetisch ansprechendes Umfeld, das sorgfältig für die geplante Aktion ausgewählt und gestaltet wird. Zudem werden bestimmte Grundsehnsüchte oder Entwicklungsaufgaben der entsprechenden Altersgruppe erkannt und bei der Auswahl der Aktion berücksichtigt. Ganzheitlichkeit ist auch hier unverzichtbar, weshalb sich bei den Erlebnissen der Schwerpunkt nicht zu sehr zugunsten der Aktion verlagern darf. Die Herausforderung wird den Schülern nicht zur Befriedigung ihres Spaß- und Adrenalinbedürfnisses angeboten, sondern um ihnen die Möglichkeit zu geben, an ihr zu wachsen und neue Fähigkeiten zu erwerben. Daher wird – wie erwähnt – der „Actionlevel“ niedrig gehalten, die Erlebnisse sollen sich eher im Inneren der Teilnehmer vollziehen. Eine ernsthafte Vor- und Nachbereitung des Erlebten sowie eine sinnvolle Aufgabenstellung sollen diesen Prozess unterstützen und gewährleisten, dass die Teilnehmer ihre neu gewonnenen Fähigkeiten in den Alltag mitnehmen.
Es sollen an dieser Stelle beispielhaft zwei Komponenten der Waldorfpädagogik und ihre erlebnispädagogische Verwendung dargestellt werden.
Sagen und Märchen in der Waldorfpädagogik, Archetypen
Im Lehrplan der Waldorfschulen spielen Sagen, Märchen und Götter- und Heldengeschichten eine große Rolle. Ausgehend von der These der Anthroposophie, dass jeder Mensch in seiner individuellen Entwicklung die verschiedenen Entwicklungsstufen der Menschheit durchläuft (auch auf diese These kann hier nicht präzise eingegangen werden), gehören zu jeder Klassenstufe bestimmte, der entsprechenden Menschheitsphase entnommene Geschichten. So geht es in der 1. Klasse beispielsweise um Märchen, während in der 4. Klasse Mythologien und in der 6. Klasse römische Sagen den Ausgangspunkt für viele behandelte Themen bilden.
Die von Carl Gustav Jung in der Psychologie entwickelte Theorie (die nicht Teil der Waldorfpädagogik ist), dass in jedem Menschen bestimmte Grundkonzepte, so genannte „Archetypen“ verankert sind, die sich unabhängig vom Kulturkreis nachweisen lassen, findet zunehmend Anwendung. Für seine Theorie untersuchte Jung Geschichten aus verschiedenen Kulturkreisen und Menschheitsphasen und stieß dabei immer wieder auf bestimmte Symbole und Figuren, woraus er schloss, dass diese in der Psyche jedes Menschen wie eine Art Urwissen vorhanden sind. „Archetypen sind psychische Strukturdominanten, die als unbewusste Wirkfaktoren das Bewusstsein beeinflussen, dieses präfigurieren und strukturieren. Viele der Archetypen beruhen auf Ur-Erfahrungen der Menschheit wie Geburt, Kindheit,Pubertät, ein Kind bekommen, Elternschaft, das Altwerden, Tod. […] Ein Archetyp als solcher ist unanschaulich, eben unbewusst, ist in seiner Wirkung aber in symbolischen Bildern erfahrbar wie beispielsweise in Träumen, Visionen, Psychosen, künstlerischen Erzeugnissen, Märchen und Mythen.“
Dass sich Archetypen psychologisch, aber auch pädagogisch einsetzen lassen, ist einleuchtend. Besonders in erlebnispädagogischen Aktionen gibt es hierfür zahlreiche Möglichkeiten. Die anthroposophische Variante setzt ihr Wissen von altersentsprechenden Sagen, Mythen und Märchen ein, um in passend ausgestalteten Settings die in den Geschichten vorhandenen Archetypen für die Kinder erlebbar zu machen und sie so auf ganz tiefer Ebene zu berühren.
Die Sinneslehre Steiners
Im Rahmen der Waldorfpädagogik ist Steiners Sinneslehre von großer Bedeutung. Im Gegensatz zur Medizin, die dem Menschen zwischen fünf und sieben Sinnen zugesteht, geht Steiner davon aus, dass der Mensch über zwölf Sinne verfügt. Diese teilt er in drei Gruppen ein:
Die Erkenntnissinne (obere Sinne), die den Ich-Sinn, den Gedanken-Sinn, den Wort-Sinn und den Hör-Sinn umfassen, die Sozialsinne (mittlere Sinne), die aus dem Wärme-Sinn, dem Seh-Sinn, dem Geschmacks-Sinn und dem Geruchs-Sinn bestehen, und die Leibessinne (untere Sinne) die durch den Gleichgewichts-Sinn, den Eigenbewegungs-Sinn, den Lebens-Sinn und den Tast-Sinn gegeben sind. Um die oberen Sinne entwickeln zu können, müssen die unteren Sinne gut ausgebildet sein. Entsprechend sind für kleine Kinder besonders Erfahrungen, bei denen die unteren Sinne angesprochen werden, für die Entwicklung des Intellekts wichtig. Zudem kann eine Schwäche der oberen Sinne, wie z.B. Legasthenie oder Stottern oft auf Ebene der unteren Sinne therapiert werden. Auch Ästhetik und Atmosphäre des Umfelds werden von den Sinnen wahrgenommen und spielen offensichtlich eine große Rolle. Sie wirken sich tiefgreifend auf das Wohlbefinden und die Entwicklung des Kindes aus. Diese Erkenntnisse bieten Anlass, bei erlebnispädagogischen Aktionen zu berücksichtigen, welche Sinne es bei welchem Kind besonders zu fördern gilt und den Ort mit Bedacht zu wählen. Ob eine Aktion im Wald oder auf dem Wasser, hoch auf dem Berg oder tief in einer Höhle stattfinden soll, ergibt sich mit Kenntnis der Sinneslehre Steiners dann oft von allein.
Beispiel Mittelalterlager für Kinder von 8-12 Jahren
Ein Feuer knistert im Schatten der alten Burg, die Kinder sitzen im Kreis und ruhen sich von den Anstrengungen der großen Schlacht aus. Stolz halten sie ihrer Schwerter auf dem Schoß, die sie sich durch ihren Mut und ihre Geschicklichkeit im Kampf, aber besonders durch ihren respektvollen Umgang in der Gruppe verdient haben. In den letzten Tagen ist so mancher an seine Grenzen gegangen, hat seine Angst für die gemeinsame Sache überwunden und seine Fähigkeiten dem Ritterorden zur Verfügung gestellt. Aus einem zusammengewürfelten Haufen Gleichaltriger ist innerhalb weniger Tage eine ganz besondere Gemeinschaft geworden, in der jeder seine eigenen Fähigkeiten und auch die Stärken und Schwächen der anderen kennen und akzeptieren gelernt hat und in der nun ganz er selbst sein kann.
Zunächst hatte man sich beim Zeltaufbauen an der Burgmauer beschnuppert, insgeheim oder lautstark die Ideen des ein oder anderen beim Gestalten des Wappens bewundert und Burg und Umgebung erkundet. Während einer Nachtwanderung konnte mancher feststellen, dass der Wald gar nicht so unheimlich ist, wenn man sich zwischen Freunden einfach darauf einlässt, in die Nacht hineinzuhorchen und mit allen Sinnen wahrzunehmen, was um einen herum geschieht. Bei den ersten Übungen mit dem Schwert war es nicht einfach, nicht gleich dem Drang nachzugeben, sich in die Schlacht zu stürzen. Doch um ein echter Ritter zu werden, musste der richtige Umgang mit dem Schwert und dessen besonnener Einsatz gelernt werden. Beeindruckend war es auch, zu erleben, wie man nur mit Hilfe des Feuers Nützliches und Schönes schmieden kann, ohne dies je zuvor getan zu haben. Auf dem von der Gruppe gebauten Floß den Fluss entlang zu paddeln, erforderte viel Vertrauen in das Gemeinschaftswerk. Beim Klettern im alten Steinbruch konnten die Kinder die Umgebung noch einmal in ganz anderer Dimension erkunden. Nun, am Ende der Reise, ist man sich nicht nur in der Gruppe vertraut, auch die umgebende Landschaft ist einem lieb geworden. Das erfolgreiche Turnier hinterlässt ein angenehmes Gefühl tiefer Zufriedenheit, entspannt kann man dem Knistern des Feuers und einer Geschichte von Helden der Vergangenheit lauschen.
Ein Erlebnis, wie das hier geschilderte Lager, ist für Kinder auf sehr unterschiedlichen Ebenen eine positive Erfahrung. Die Sinneslehre Steiners aufgreifend, werden durch das ansprechende Umfeld, und die sowohl im kreativen als auch sportlichen Bereich liegenden Aktivitäten, alle Sinne angeregt. Besonders die nicht auf Grusel sondern auf Wahrnehmung ausgelegte Nachtwanderung kann hier eine ganz neue Erfahrung bieten, bei der die Kinder einerseits merken, dass sie nicht nur mit den Augen ihre Umgebung erforschen können, und andererseits die Stimmung der Nacht als Gegenpol zum Tag und ihre Funktion für Pflanzen, Tiere und Menschen im Tagesrhythmus am eigenen Leib spüren.
Beim Floßbau ist Zusammenarbeit in der Gruppe gefragt, und es werden Kompetenzen wie die Einschätzung der eigenen Stärken und die Ausführung der danach ausgewählten Aufgaben, aber auch das Vertrauen in die Arbeit der anderen geschult. Ritterspiele geben den Kindern Gelegenheit, in verschiedene Rollen zu schlüpfen und so unter anderem den Archetypus des Helden oder des Bösewichtes auszuleben, was psychologische Grundbedürfnisse befriedigt. Der Schwertkampf zwingt den Ritter in spe zu einer Reise durch die Menschheitsentwicklung, bei der zunächst wie in frühen Menschheitsepochen der Drang besteht, unbeherrscht drauflos zu prügeln und erst nach und nach Selbstbeherrschung und die edle Gesinnung des Ritters, der sich und sein Gegenüber genau wahrnimmt, erlangt werden. Beim Klettern wird der Umgang mit persönlichen Herausforderungen geschult.
Die zunächst unbezwingbare Wand wird Meter für Meter ertastet und erkundet, immer wieder findet sich ein guter Halt an Stellen, die zunächst aussichtslos erscheinen, bis man am Schluss das Ziel erreicht hat und das Erfolgserlebnis einen für die Mühen entlohnt. Sich erreichbare Ziele zu suchen und zu erleben, wie Schwierigkeiten auf dem Weg beseitigt werden können, indem man sich aufgrund des Vertrauens in den Sicherungspartner auch kritische Bewegungen zutraut und das Ziel dadurch aus eigener Kraft erreicht, sind Erfahrungen, die mit der richtigen Begleitung mühelos auf den Alltag übertragen werden können. So nehmen die Kinder viele wertvolle Erfahrungen mit und haben ihre persönlichen Grenzen oder einfach eine ganz andere Wahrnehmung erlebt, ohne dass es dafür besonders extremer Umstände bedurft hätte.
Unter dem Aspekt der Salutogenese sind die oben geschilderten Erlebnisse hervorragend geeignet, die Kinder bei der Ausbildung eines starken Kohärenzgefühls zu unterstützen. Die auf Aaron Antonovsky zurückgehende Idee, als Gegenbewegung zur klassischen Medizin nicht die krankmachenden, sondern die gesunderhaltenden Faktoren zu untersuchen, beschreibt mit Kohärenzgefühl eine Art Grundeinstellung des einzelnen Menschen schwierigen Situationen gegenüber, welches mit erfolgreicher Lebensführung und besserer Gesundheit assoziiert wird. Dabei stufen Menschen mit starkem Kohärenzgefühl Situationen als leichter zu bewältigen ein, als diejenigen mit schwachem Kohärenzgefühl. Dies liegt daran, dass erstere davon ausgehen, über Ressourcen zur Bewältigung der Situation zu verfügen. Zudem haben sie erlebt, dass sich die zur Bewältigung nötige Anstrengung lohnt. Das Kohärenzgefühl wird im Kinder- und Jugendalter ausgebildet. Dabei ist das Erleben von schwierigen Situationen nicht der Auslöser für ein schwaches Kohärenzgefühl, vielmehr ist entscheidend, wie die Situation für das Kind ausgegangen ist. Wenn es erlebt, Schwierigkeiten bewältigen zu können, stärken solche Situationen das Kohärenzgefühl, andernfalls schwächen sie es.
Bekommt ein Kind also die Möglichkeit, sich in einer funktionierenden Sozialstruktur herausfordernden aber lösbaren Aufgaben zu stellen und mit einem positiven Erlebnis abzuschließen, so hilft dies ungemein beim Aufbau eines starken Kohärenzgefühls. Die Gemeinschaft, die unter den Kindern in einem solchen Ferienlager entsteht, das Vertrauen zu den Betreuern und die Bewältigung verschiedener Herausforderungen, die von den Kindern als der Mühe wert angesehen werden, sind in dieser Hinsicht wichtige Erfahrungen. Der aktuelle Lebensalltag bietet oft wenige Aufgaben, die von den Kindern als wichtig und lohnend eingestuft werden, besonders, da die Schule in dieser Hinsicht ihren Stellenwert verloren hat. In der Freizeit bieten der Sportverein oder die Musikschule gelegentlich einen Ausweg, doch viele Kinder nehmen nicht an solchen Angeboten teil. Ein starkes Kohärenzgefühl auszubilden, ist unter solchen Gegebenheiten beinahe unmöglich, was die Wichtigkeit bedürfnissorientierter Pädagogik wie der Waldorf-Erlebnispädagogik zeigt.