Toleranz - über die Bedeutung eines häufig ungenau gebrauchten Begriffs
Passend zur Ideenschmiede am kommenden Wochenende, in der wir unter anderem das Thema Inklusion betrachten wollen, haben wir die Mitarbeiterbesprechung in dieser Woche mit einer Diskussion um den Begriff "Toleranz" eröffnet. Was genau heißt es eigentlich, tolerant zu sein?
Laut Duden ist man tolerant, wenn man "(in Fragen der religiösen, politischen o. a. Überzeugung, der Lebensführung anderer) bereit" ist, "eine andere Anschauung, Einstellung, andere Sitten, Gewohnheiten u. a. gelten zu lassen".
Die meisten Menschen halten sich für tolerant, weil sie sich von den Gewohnheiten und religiösen Praktiken anderer Menschen nicht gestört fühlen. Wenn man den Begriff aber genau betrachtet, ist das nicht Toleranz, sondern Gleichgültigkeit. Denn was nicht stört, muss nicht toleriert werden. Dulden kann ich nur etwas, was ich selbst anders sehe oder mache. Erst wenn ich selbst ein Wertesystem vertrete, das im Widerspruch zu dem eines anderen Menschen steht, kann ich dieses tolerieren. Und ich darf es tolerieren, wenn es nicht im Widerspruch zu geltendem Gesetz steht.
Toleranz oder Gleichgültigkeit?
Wenn ich meine eigene Toleranz unter diesem Gesichtspunkt unter die Lupe nehme, muss ich mir eingestehen,dass sie deutlich an Fleisch verliert, weil Themen wie Religion oder Brauchtum, die häufig in diesemZusammenhang genannt werden, keine echten Herzensangelegenheiten für mich sind. Eine christliche Kirche besuche ebenso wenig wie eine Moschee und mich hat es noch nie gestört, wenn Kinder in der Schule Kopfbedeckungen tragen. Bei uns war es früher das Basecap, das möglichst mit Schirm nach hinten die Lehrer zur Weißglut getrieben hat. Heute ist es für einige das Kopftuch. Mich stört das eine ebenso wenig wie das andere. Aber macht mich das zu einem toleranten Menschen? Ich würde meine Haltung weniger als Gleichgültigkeit beschreiben, sondern eher als ein Leben-und-Leben-lassen. Im alltäglichen Sprachgebrauch ist es wohl das, was man unter Toleranz versteht. Ob es strenggenommen die Definition des Begriffes erfüllt, bleibt fraglich.
Gewohnheit, Überzeugung oder beides?
Sitten und Gewohnheiten anderer scheinen mir leichter tolerabel als gegensätzliche Überzeugungen. Gleichzeitig sind Gewohnheiten schwerer umzukehren, als Überzeugungen, denn letzteren kann man mit Argumenten beikommen. Gewohnheiten etablieren sich oft unreflektiert und ohne eine bestimmte Überzeugung. Mancher ist mit den eigenen Gewohnheiten nicht im Reinen und handelt entgegen der eigenen Überzeugung. Wie der Raucher, der seit 10 Jahren versucht, aufzuhören, weil er überzeugt ist, dass es ihm schadet. Man kann nicht von Toleranz sprechen, wenn er das Nichtrauchen anderer gelten lässt.
Gewohnheiten anderer zu tolerieren ist also nur dann möglich, wenn sie den eigenen Gewohnheiten entgegenstehen und die eigene Gewohnheit aus einer persönlichen Überzeugung entstanden ist. Wer sich also tolerant einschätzt, weil er wenig Probleme mit fremden Gewohnheiten hat, prüfe einmal, hinter welchen eigenen Gewohnheiten wirklich eine Überzeugung steht.
Inklusion und Toleranz
In der Debatte um Inklusion wird oft auch von Toleranz gesprochen. Die Andersartigkeit, die jeden von uns zum Individuum macht und von jedem anderen unterscheidet, soll toleriert werden. Dabei verschwindet die Trennung in "normal" und "anders". Jeder Mensch wird als anders im Sinne von unterschiedlich zu jedem anderen Menschen verstanden.
Inklusion verlangt noch mehr, als die bloße Toleranz: Die Andersartigkeit soll nicht nur geduldet werden. Sie soll als Bereicherung wahrgenommen werden. Menschliche Individualität besteht aus mehr als unterschiedlichen Gewohnheiten und Überzeugungen. Wenn jemand mit einem bestimmten Handicap auf die Welt kommt oder bei einem Unfall ein Bein verliert, passiert das nicht aus Überzeugung. Und Alt wird man auch nicht aus Überzeugung oder Gewohnheit. Die aus den Umständen resultierenden Gewohnheiten sind oft Notwendigkeiten. Man kann also nicht von Toleranz sprechen, wenn man gelten lässt, dass manche Menschen in bestimmten Bereichen mehr Unterstützung brauchen als andere. Es gibt gar keine andere Option. Insofern ist es höchste Zeit, dass alle Selbstbeweihräucherung nach dem Motto "wir sind tolerant, bei uns dürfen jetzt auch Menschen mit Behinderungen mitmachen" aufhören und verstanden wird, dass es sich beim Inklusionsprozess nur um die Umsetzung eines Grundrechtes handelt, das mit Toleranz nichts zu tun hat.
Wie viel Fleisch hat eure Toleranz nach Abzug aller Gleichgültigkeiten, Gesetzeswidrigkeiten und Grundrechten anderer Menschen?