Lilith Chromow: Wendelin, warum ist Erlebnispädagogik ein wirksames Mittel, um gewaltpräventiv zu arbeiten?
Wendelin Haag:
„Erlebnispädagogik ermöglicht meiner Erfahrung nach primär Persönlichkeitsentwicklung und soziales Lernen. Deshalb sind erlebnispädagogische Methoden prädestiniert zur Gewaltprävention. Betrachten wir einen Schüler (wegen der besseren Lesbarkeit wird im gesamten Interview auf die Nennung beider Geschlechter verzichtet, obwohl immer beide gemeint sind) als Beispiel: Ein Jugendlicher mit Selbstvertrauen, also mit dem Wissen um seine Kompetenzen und Ressourcen, wird es kaum nötig haben, seine Stärke durch das Schikanieren eines anderen unter Beweis zu stellen. Dies gilt aber nicht nur für den potenziellen Täter sondern auch für das potenzielle Opfer: Ein junger Mensch, der seine Fähigkeiten kennt und sie einzusetzen weiß, wird diese nutzen, sich wehren oder noch besser, sich Unterstützung suchen und somit kaum zum Opfer werden.
Ebenso wird eine gute Klassengemeinschaft, also eine Schulklasse, die sich als Gemeinschaft wahrnimmt, in der Empathie, Konfliktfähigkeit und Zivilcourage vorhanden sind, kaum zulassen, dass eines ihrer Mitglieder gequält oder verletzt wird.“
Selbst ohne ein konkret auf Gewaltprävention ausgerichtetes Konzept ist Erlebnispädagogik also bereits in diesem Sinne förderlich?
„Mit Sicherheit. Gleichwohl erscheint es mir sinnvoll, Kindern und Jugendlichen konkrete Hilfestellung anzubieten und mit ihnen zielgerichtet zu arbeiten. Mit unserem Ansatz „Geh Wald statt Gewalt“ geben wir den Schülern nicht nur das Rüstzeug für den Weg, sondern begleiten sie auch auf diesem. Sie üben sich zuerst ausführlich an Selbst- und Fremdwahrnehmung, lernen Elemente gewaltfreier Kommunikation kennen, lösen Kooperations- und Vertrauensaufgaben und genau darauf kommen wir dann im Alltag wieder zurück. Die Prävention selbst ist also einerseits das Anlegen von Verhaltensmöglichkeiten und das Bewusstmachen von Regeln und andererseits die Arbeit bei unseren wöchentlichen Terminen, die sich immer wieder darauf bezieht.
Dabei geht es dann oberflächlich betrachtet um andere Themen: Bei unserem ständigen Programm mit den Grundschülern um das naturpädagogisch angeleitete Entdecken der vier Elemente, bei Klassenfahrten mit höheren Schulklassen beispielsweise um die Orientierung mit Karte und Kompass. Bei Letzterem steht die Kooperationsfähigkeit im Mittelpunkt: Die jeweilige Kleingruppe muss sich selbst organisieren und dabei überlegen, wie sie die Stärken der einzelnen Gruppenmitglieder sinnvoll einsetzt, damit alle gemeinsam am Ziel ankommen. Die dabei sichtbar werdenden Ressourcen und Konflikte können vor dem Hintergrund des bereits Erarbeiteten bestens reflektiert werden und geben Lösungsmöglichkeiten für die nächste Gruppenaufgabe vor.“
Ab welchem Alter sollte mit einem solchen Programm begonnen werden?
„Ehrlich gesagt ärgert mich das Wort Programm. Es suggeriert, die Schüler würden durch ein fest stehendes Konzept geschleust und änderten dadurch ihr Verhalten. Das wäre künstlich, lebensfern und wenig wirksam. Wir gehen es anders herum an: Wir betrachten, was die jeweilige Klasse beschäftigt, finden in der Vielfalt der erlebnispädagogischen Möglichkeiten etwas Reizvolles und Motivierendes, lassen die Schüler sich an der Aufgabe ausprobieren und schauen gemeinsam mit ihnen an, was das bewirkt. So kommen wir Schritt für Schritt dem pädagogisch gesetzten Ziel näher.“
Trotzdem: Ab welchem Alter sollte Gewaltprävention beginnen? Kann man auch erst beginnen, wenn Jugendliche bereits auffällig sind?
„Ich empfinde das Grundschulalter als ideal. Hier werden Verhaltensweisen im System Schule zementiert, die später als natürlich gelten.
Auch der Zeitpunkt, zudem die Klassen in den weiterführenden Schulen neu zusammengestellt werden, hier in Baden-Württemberg leider in der Regel bereits in Klasse 5, halte ich für eine große Chance gewaltpräventiv zu arbeiten. Aus der Gruppendynamik wissen wir, dass sich hier, nach dem Kennenlernen und Orientieren, bald die Rollen und Verhaltensmuster herausarbeiten und es bedeutend einfacher für alle Beteiligten ist, hier Einigkeit über verschiedene Normen zu erzielen und ein „Wir-Gefühl“ herzustellen, als dies später mühsam nachzuholen.
Gleichzeitig ist jeder Konflikt eine große Lernchance, und besser wir intervenieren später, als nie“
In welcher Form lassen sich Erfolge beobachten?
„Meiner Erfahrung nach ist Erfolg vor allem eine Frage der zur Verfügung stehenden Mittel. Das Wichtigste dabei ist Zeit! Erlebnispädagogik ist vielerorts noch eine hübsche pädagogische Insel, aber durch eine Kletterwand in der Turnhalle oder einen Hochseilgartenbesuch alleine ist noch nicht unbedingt viel erreicht. Wenn wir, wie hier, mit Schülern ein ganzes Jahr arbeiten können, werden die Ergebnisse deutlich sichtbar.
Ich leite ebenso seit Jahren erlebnispädagogische Klassenfahrten. Viele Träger führen eine Befragung von Schülern und Lehrern vor und nach der Klassenfahrt durch. Hier werden Ergebnisse, zum Beispiel hinsichtlich des persönlichen Wohlempfindens in der Klasse, dann auch messbar. Aber auch hier sei gesagt: Die besten Ergebnisse lassen sich bei Klassen messen, die das zweite oder dritte Mal mit uns auf Tour gehen“.
Wie können Schulen und Elternhäuser das Gelingen beeinflussen/unterstützen?
„Erst einmal sind die Elternhäuser ganz entscheidend für die Startvoraussetzungen verantwortlich. Wie soll ich einem Kind beibringen, dass es Alternativen zu seinem gewalttätigen Verhalten gibt, wenn es tagtäglich diesem in der Familie ausgesetzt ist? Damit meine ich ausdrücklich nicht nur körperliche Gewalt.
Mit vielen Lehrkräften arbeiten wir bestens zusammen. Sie geben uns nicht nur Mandat und Zeit für unsere Arbeit sondern bereiten diese gemeinsam mit ihrer Klasse vor und nach. Dies wirkt nachhaltig.
Meine Vision würde trotzdem noch weiter gehen. Unser Ziel muss es sein, künftig Schulen als Projektpartner zu gewinnen, die sich die „gewaltfreie Schule“ auf die Fahnen schreiben. Dies erfordert Fortbildung des Lehrpersonals, Information der Eltern und eine klassenübergreifende Qualifizierung aller Schüler. Gerade durch die Tatsache, dass die Zahl der Ganztagsschulen massiv wächst und diese damit immer stärker zum Lebensraum werden, in dem die Kinder und Jugendlichen nahezu ihren ganzen Tag verbringen, sehe ich hier großes Entwicklungspotenzial aber auch enormen Bedarf.“
Wer entscheidet, ob eine Klasse an einem Programm teilnehmen darf?
„Wenn ein ständiges Programm an der Schule gewünscht ist, ist das in der Regel die Schulleitung oder der freie Träger, der das Nachmittagsprogramm koordiniert. Bei Klassenfahrten oder kürzeren Projekten sind es die einzelnen Klassenlehrerinnen. Oft braucht es aber auch die Initiative eines Einzelnen, eines Schulsozialarbeiters und Elternvertreters, der die Idee in die Schule bringt.“
Studien weisen nach, dass die Jugendgewalt in den letzten Jahren merklich rückläufig ist. Die höhere Zahl in den Polizeiberichten sei auf die stark angestiegene Anzeigebereitschaft der Jugendlichen zurück zu führen. Wir das Programm also bald überflüssig?
„Der Forschungsbericht über „Jugendliche in Deutschland als Opfer und Täter von Gewalt“* stellt eine gleichbleibende bis leicht rückläufige Tendenz von Jugendgewalt fest. Eine der darin belegten Kernthesen ist die, dass die leicht sinkende Jugendgewalt in und außerhalb von Schulen unter anderem „ihre Entsprechung im Anstieg präventiv wirkender Faktoren“ sieht. Insofern sehe ich unsere Arbeit als nachgewiesenermaßen wichtigen Ansatz zur Gewaltprävention an.
Gleichzeitig sollten uns die Ergebnisse der letzten Sinus-Jugendstudie aber nachdenklich machen. Die Autoren weisen hier ausdrücklich darauf hin, dass eine bestimmte Gruppe Jugendlicher, aus prekären Verhältnissen, massiv ausgegrenzt wird und bei diesen die Resignation wächst. Dies hat zuvor schon die Shell-Studie festgestellt. Ebenso sind sich die Autoren beider Studien einig, dass alle Jugendliche, insgesamt unter enormen Druck stehen und es beispielsweise trotz unsicherer Berufsaussichten, einen hohen Leistungsdruck gibt.
Beides halte ich für erhebliche Risikofaktoren für Frustration und Gewaltbereitschaft. Insofern meine ich, haben wir noch einen weiteren Weg vor uns. Erfreulich ist, dass er vielerorts aber mittlerweile beschritten wird“.
Ich bedanke mich für das Gespräch.
*Dirk Baier/Christian Pfeiffer/Julia Simonson/Susann Rabold: Jugendliche in Deutschland als Opfer und Täter von Gewalt. Erster Forschungsbericht zum gemeinsamen Forschungsprojekt des Bundesministeriums des Innern und des KFN. Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen e.V. Forschungsbericht 107. Hannover 2009