Unser Weihnachtsfest folgt seit jeher in seinem Ablauf festen, aber unausgesprochenen Regeln. Irgendwie weiß jeder, was wann passieren wird und welche Rolle er dabei spielt. Und obwohl ich eigentlich kein Freund traditionsreicher Feste bin und gut auf Dorfumzüge mit Blaskapelle verzichten kann, lege ich Wert darauf, Weihnachten auch dieses Jahr in alter Manier zu begehen und werde Änderungen nur unter Protest zulassen.
Ich weiß noch genau, wie sich alles in mir sträubte, als meine Mutter eines Tages (es muss ein 24.Dezember sein, denn wir schmücken den Baum immer erst dann) auf Elektro-Kerzen umstellen wollte. Ich war zutiefst erschüttert, dass dieser Gedanke überhaupt ausgesprochen wurde. Wir waren nicht solche Leute (im Familienjargon auch gerne als „Prolls“ bezeichnet), die Stromkerzen benutzten. Das waren jene bedauernswerten, in „Vollplastik“ gekleideten Geschöpfe, denen immer ein ungesund süßlicher Geruch von Weichspüler anhaftete und die zum Klang einer Pop-Weihnachtslieder- CD ihr Kunststoffspielzeug auswickelten (worum wir sie oft genug beneideten). Bei uns hingegen war alles echt. Und aus Bienenwachs. Und so sollte es bleiben. Andererseits wurde die zusehends kleiner ausfallende Krippendekoration am Fuß des Baumes unkommentiert hingenommen, aus irgendeinem Grund schien niemand besonders daran zu hängen.
Unsere Familie hatte sich mit den Jahren von einer Familie mit Kleinkindern zu einer mit Teenagern gewandelt, was manche Modifizierung des Festes unumgänglich machte. Obwohl wir sonst nie in die Kirche gehen, war es meiner Schwester in einem Jahr plötzlich unheimlich wichtig, dass wir zu einer bestimmten Uhrzeit in einem ganz bestimmten Gotteshaus eintrafen. Hatten wir uns zunächst über den spontanen Ausbruch an Religiosität gewundert, war uns vor Ort beim Anblick eines netten jungen Mannes schnell klar, woher der Wind wehte. Der Brauch, nach dem Weihnachtsabendessen noch in die Stadt zu fahren, um im „Mojo“ tanzen zu gehen, ist dafür ganz allein auf mich zurück zu führen. Manches jedoch hat sich seit meinem ersten bewusst erlebten Weihnachtsfest nicht geändert.
Ich habe mich also gefragt, wieso mir ein paar Kerzen so wichtig sind, während ich auf ein gemeinsames Frühstück am ersten Weihnachtstag für einen Clubbesuch gern verzichtet habe. Und tatsächlich gibt es Antworten. Die Ritualforschung beschäftigt sich mit der Bedeutung von Ritualen und den Gründen für deren Existenz. In jeder bekannten Kultur gibt und gab es Jahresfeste, die nach bestimmten Regeln abzulaufen haben. In unseren Breiten ist das Weihnachtsfest für die meisten das wichtigste Fest des Jahres. Doch obwohl wir alle eigentlich das gleiche Fest feiern, hat jede Familie ihr eigenes Ritual dazu entwickelt. Und das nicht ganz zufällig. Denn Rituale sind immer eine Art Visualisierung der Werte und des Stils der Gemeinschaft, zu der sie gehören. Ein Ritual gibt den Mitgliedern die Möglichkeit, eher abstrakte Wertevorstellungen für die Sinne erfahrbar zu machen. Zusammenhalt wird erlebt und dadurch mehr als ein Begriff. Auch die gesellschaftliche Stellung, politische Ausrichtungen und andere Vorstellungen, die man als Familie teilt, werden durch Kleinigkeiten im Ritual sichtbar gemacht. Wie wir uns als Familie sehen, demonstrieren wir durch ein Ritual wie das Weihnachtsfest also uns selbst und nach außen. Und wie wir unsere Familie sehen, beeinflusst in großem Maße die eigene Identität. Beim jährlichen Zusammentreffen versichern wir uns der Gültigkeit der gemeinsamen Werte. Änderungen im Ablauf des Festes werden akzeptiert, wenn dieser Änderung der familiären Selbstdarstellung eine Änderung des Selbstbildes der Familie voraus ging. So ist das Ritual durchaus dynamisch und wird von der Familie jedes Jahr aufs Neue angepasst. Dabei bleiben gewissen Grundstrukturen erhalten. Deshalb sind uns manchmal Details wie die richtigen Kerzen oder das gemeinsame Weihnachtsliederspielen so wichtig. Sie stehen für bestimmte Grundüberzeugungen, hinter denen wir stehen und die wir in unserer Familie verankert sehen. In meinem Fall stehen die Kerzen also für weit mehr als Licht am Baum. Wie schon beschrieben ruft die elektrische Alternative sofort bestimmte Vorstellungen hervor, die sich nicht mit meiner Vorstellung unserer Familie decken. Dass es unzählige Familien gibt, bei denen der Weihnachtsbaum elektrisch beleuchtet wird und die nicht dem oben beschriebenen Klischee entsprechen, ändert nichts daran. Die Krippendekoration hingegen hat für keinen von uns eine größere Bedeutung, da sie anscheinend keine wichtige Grundüberzeugung repräsentiert.
Sollten Sie sich nun also dabei ertappen, wie Sie stundenlang nach einem angestaubten Holzengel suchen, auf den sie unter keinen Umständen verzichten können, suchen Sie getrost weiter. Und haben sie ein offenes Ohr für ihre Kinder, wenn die sich gegen Elektrokerzen auflehnen, obwohl die doch so praktisch sind...
Im Namen des gesamten Aventerra – Teams wünsche ich allen ein frohes Weihnachtsfest und alles Gute im neuen Jahr!